Endlich ist sie wieder da: die Zeit der Links-Rechts-Papiere, der Ruck-Reden, die Stunde der Ehemaligen, der Besserwisser aber nicht Bessermacher, die Aufschläge anderer Namenloser. Krisen der SPD waren immer Zeiten der Vielstimmigkeit. Selten auch Zeiten einer gemeinsam getragenen Analyse, die mit Konsequenzen verbunden wäre. Wir erleben es wieder.

Der Europawahlkampf wirft Fragen und Themen auf: Organisation, Programm, Personal, Kommunikation. Wer einen Europawahlkampf so profillos aufzieht wie den NRW-Landtagswahlkampf, muss sich nicht wundern, wenn das Ergebnis so ist, wie es ist. Als gäbe es in Europa nichts, das jenseits der wohlfeilen Über-schrift eine konkrete Antwort braucht, die über einen #hashtag# hinausgeht. Analyse? Fehlanzeige.

Nach dem regelrechten „Scherbengericht“ in der Bundestagsfraktion und weiten Teilen der Partei, dem persönlich nachvollziehbaren, aber dennoch unüberlegten Rücktritt von Andrea Nahles, wird in hektischer Betriebsamkeit darüber gestritten, ob ein Parteitag vorgezogen, aus der GroKo ausgestiegen werden soll, eine Doppelspitze nötig ist und wie der Forderungskatalog für eine hellere Zukunft aussehen soll. Toll.

Über all diese zentralen Fragen wäre es gut, wenn sich die SPD auf dem schmalen Grat zwischen Gerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit etwas mehr über sich selbst klar werden würde. 

  1. Am Anfang steht immer das Programm: Das der GroKo war klar, mehrheitlich abgestimmt und Arbeitsauftrag. Das der Partei ist immer im Wandel, muss „auf der Höhe der Zeit sein“. Zweifellos ist dies die größte Baustelle, aber die SPD ist programmatisch weit besser als ihr Ruf, trotzdem gibt es Defizite: Klimawandel, Außenpolitik und anderes. Die Aufmerksamkeit für Kevin Kühnert ist sach-lich allein nicht zu begründen – mit Defiziten der programmatischen Weiterentwicklung und der Führung im Parteivorstand der SPD schon. Allerdings: Sollten sich wirtschaftliche Rahmenbedingun-gen, die Einheit Europas, die Stabilität des Friedens ändern, kann die Stimmung schnell kippen, und anderes dringt auf die Agenda. Dennoch: Programmatische Weiterentwicklung bleibt unverzichtbar.
  2. Man muss nicht andere Parteien kopieren, darf aber sehr wohl Fragen stellen und daraus Konsequenzen ziehen. Wäre der Hype um die Grünen wohl der gleiche, wenn auch dort noch wesentliche Teile des Personals sogar noch aus der alten, rot-grünen Regierungszeit an der Spitze stünden?  Wenn das Führungspersonal der SPD, namentlich die stellvertretenden Vorsitzenden die Übernahme der Führung ablehnen, warum sind sie dann Führung? Und sind stellvertretende Parteivorsitzende, die gleichzeitig auch Landesvorsitzende sind, in erster Linie Stellvertreter oder lieber Landesvorsitzende? Die SPD tauscht seit rund zehn Jahren ihr Führungspersonal mehr oder weniger in Rochaden, die Protagonisten sind vielfach die gleichen. Welche Konsequenzen müssen sie ziehen? Sollten Führungspersönlichkeiten Charisma haben, Empathie ausstrahlen, Menschen gewinnen können?
  3. Image und Inhalt sind offenbar nicht voneinander zu trennen. Das Image der SPD ist mittlerweile hausbacken, sie ist weder sexy, auch nicht jung, wobei nicht einmal das Lebensalter gemeint ist und hat das Verlierer-Image weg – Mitleid statt Leidenschaft ist die Antwort. Etwas beispielhaft: Wir reden über Steuergerechtigkeit, darüber, was in Europa nötig wäre gerade so, als würden wir nicht selbst den Finanzminister stellen. Die Finanztransaktionssteuer als Finanzierungsinstrument, quasi der Jäger 90 unserer Zeit, entwickelt sich zum Ladenhüter, die Digitalsteuer nicht zum Erfolgsmodell und die Besteuerung der großen Internetkonzerne als unumstrittenes Thema: Wer eigentlich unserer politischen Konkurrenten will das nicht? Beim Klimaschutz ist es ähnlich: In Münster, einer Studentenstadt, sind Wahlergebnisse nur unter besonderer Einbeziehung der lokalen Situation zu verstehen. Die Partei sucht Profil mit Themen zu gewinnen, die aktuell sind: Klimaschutz, Seenotrettung, Upload-Filter. Trotz einer überaus engagierten, jungen Kandidatin und der Tatsache, dass sogar die Umweltministerin dort ihren Wohnsitz hat und engagiert Wahlkampf macht, halbiert sich die SPD während die Grünen Spitzenreiter in NRW und Wahlsieger vor CDU und SPD werden.

    Hier eine Personaldebatte zu führen, hilft nicht weiter. Die Risikobereitschaft der SPD, ihre Fähigkeit zur Unterscheidbarkeit ist in vielen Bereichen verschwommen oder nicht erkennbar. Gleichermaßen kommuniziert sie nicht: In der Wahrnehmung der Menschen liefert die SPD nicht, obwohl sie in der Regierung konkret handelt. Nota: Die Partei liefert nicht!
  4. „Es gibt eine normative Kraft des Faktischen, aber es gibt keine faktenersetzende Kraft der Phraseologie“, konnte noch Herbert Wehner im Disput (mit Möllemann) feststellen. Fast nichts davon stimmt heute noch, bedauerlich oder nicht, das Netz ist die neue, vermeintlich normensetzende Kraft, aber wie gehen wir damit um? Neue Formen der Kommunikation sind vielen von uns fremd, (Es gibt übrigens keinen Grund, darauf irgendwie stolz zu sein.) und es ist nicht damit getan, mit einem „Influencer“ kritisch zu diskutieren.
  5. Neben der Arbeit der Ebene funktioniert das Marketing nicht, weil die Marke nicht klar ist. Was ist die Marke SPD in der Großen Koalition und erst recht darüber hinaus? Die Grundsatzprogramme der SPD – nicht nur Godesberg – strotzen nicht nur von Beschreibungen der Gefahren – auch von Hoffnung auf eine bessere Welt. Die SPD verbleibt im Reich der Notwendigkeit, vergessend, dass das Reich der Freiheit darauf aufbaut. Warum schafft die SPD keinen Hoffnungsüberschuss mehr? Die andere Seite der Medaille: Für viele in der SPD ist die Groko (auch deshalb) zur Projektionsfläche ihrer eigenen Unzufriedenheit geworden, längst nicht mehr nur der ursprünglichen 30 Prozent Groko-Gegner. Die Wahlanalysen nennen Berge von Defiziten durch alle Altersgruppen und soziale Schichten.
  6. Vergleicht man das Leben der Menschen in Deutschland mit dem via Facebook, Twitter und anderen Medien vermittelte Lebensgefühl vieler SPD-Mitglieder, blickt man in tiefe Schluchten: Hier die Zufriedenheit vieler Menschen mit dem eigenen Land oder der eigenen Lebenslage und dort Unzufriedenheit mit dem politischen System, der eigenen Partei, der eigenen Leistung. Als stünde das Land vor dem Abgrund.

    Was ist der SPD und ihren Mitgliedern noch etwas wert? Anders gesagt: Wer politische Ziele nur so erfüllt, dass sie nicht erreicht werden können, kann keinen Erfolg erzielen. Es ist bisweilen unbe-greiflich, wie der politische Kompromiss als Etappe politischen Handelns als unbeachtliche second-best-Lösung abgelehnt wird.
  7. Das damit verbundene Dilemma trägt die Formel „Ihr und Wir“: Obwohl beide in der gleichen Partei, gilt vielen an der Basis nichts, was die dort oben leisten. So wie Europa das Synonym der Brexiteers für alles Elend auf Britanniens Insel, so ist die Groko (und jeder, der sie unterstützt) das Synonym für den Niedergang der SPD. Kein Erfolg zählt, selbst wenn er noch so groß ist. Das neue Sozialstaatskonzept der SPD, das die jahrzehntelange Hartz-Debatte beenden könnte, wird behandelt, als wäre es eine Petitesse des Alltagsgeschäftes. „Ja, gute Arbeit in Berlin, aber sie kommt bei uns nicht an“, lautet die freundliche Formel einer merkwürdigen Dichotomie in der Partei der Solidarität. Die Einführung des „Sozialen Arbeitsmarktes“, für viele Tausende Langzeitarbeitslose ein wirklicher Durchbruch, nur eine Randnotiz.
  8. Mehr und mehr verdrängt dieses Gefühl die notwendige Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Sie spielt kaum noch eine Rolle, dabei wäre gerade dies eine zentrale Aufgabe: Das bundesdeutsche Parteienspektrum bietet eine Fülle von Angriffspunkten, Tag für Tag. Für weite Teile der SPD ist die Selbstbeschäftigung wichtiger. Aus konstruktivem Streit kann Profil geschärft und Zustimmung gewonnen werden. Aus Streit, der Distanz und Entfremdung befördert, entstehen Mauern.

    Und umgekehrt verlangen die da oben Solidarität von einer Basis, die sie selbst nicht (mehr) kennen. Klarheit darüber wäre eine lohnenswerte Aufgabe. Denn ganz sicher ist die Parteitagsbasis nicht die allgemeine Basis. Wenn es nicht Sprach-, dann ist es mindestens Verständnislosigkeit ihrer selbst, falls Unversöhnlichkeit wirklich der permanente Zustand ist, den manche beschreiben. Die Basis ist nicht einfach, eine Plattitüde, aber jedenfalls besser als sie gemacht wird. Ganz sicher sollte die SPD mehr mit ihr reden, statt sich immer wieder von Focus-Gruppen sagen zu lassen, was Schwerpunkte der Auseinandersetzung sind (deren Erfolge jedenfalls nicht spürbar sind). Anders gesagt: Die Montags- bis Freitags-Partei, konkret die Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker, sind nicht die Partei der Parteitage. Für sie ist die Mehrheitsfähigkeit der SPD über eine Links-Rechts-Debatte nicht zu verstehen, geschweige denn zu gewinnen.
  9. Die einst für ihre organisatorische Schlagkraft bekannte Sozialdemokratie (im Verbund mit den Gewerkschaften) gibt es nicht mehr, nicht einmal im Ruhrgebiet. Wer Wahlergebnisse nach Bundesländern differenziert, erkennt sofort das Dilemma der SPD: Es besteht ein klassisches Nord-Süd-Gefälle mit einer großen Diaspora im Osten. Das hat mit Inhalten zu tun, gewiss. Aber ist die SPD mit ihrem hauptamtlichen Apparat nicht längst eine bürokratische Dienstleistungsagentur geworden, statt Teil einer gesellschaftlichen Bewegung zu sein? Was muss passieren, wenn die Zeiten vorbei sind, wenn die alte organisatorische Struktur weg und die Arbeit der Vermittlung längst eine andere geworden ist? Hat die SPD darauf eine Antwort? World-Cafés und runde Tische reichen nicht aus, um die komplexe soziale Durchdringung der Gesellschaft auf einem Fundament abzusichern, das über die Tagesaktualität hält.
  10. Nach verlorenen Wahlen, in strukturellen Krisen besinnt sich die SPD gerne auf ihre stärkste Bastion: die Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker. Sicher mehr als 50.000 von ihnen sind ständig am Ort der Wahrheit und Wirklichkeit: in den Städten und Gemeinden. Kaum jemand steht vor Ort mehr für die SPD, als Basis für Gegenwart und Zukunftsfähigkeit der SPD. Doch auch sie sind schon lange nicht mehr in gleicher Weise in gesellschaftlichen Gruppen, in Vereinen und Organisationen verankert, wie dies aus der Geschichte der Arbeiterbewegung über Jahrzehnte selbstverständlich war: ob im Sportverein, im Gesangs- oder Schützenverein. Ob sie noch in ihren Wahlkreisen und Ortsvereins-Gebieten leben und wohnen sei einmal dahingestellt. Ja selbst in der Gewerkschaft oder anderen gesellschaftspolitisch tätigen Organisationen ist die SPD so gerade noch dabei, wie dies Umweltorganisationen, Flüchtlingsgruppen und Mieterbewegung sichtbar werden lassen.

    Von einzelnen Erfolgen bei der Wahl der Ober- und Bürgermeister sowie Landräten abgesehen, hat die SPD bei aktuell 10 Kommunalwahlen Stimmen und Prozente verloren. Dort, wo wir ein niedriges Niveau hatten, sind die Verluste geringer und dort, wo wir ein höheres Niveau hatten, sind die Verluste höher. In Rheinland-Pfalz beispielsweise sind wir von einer Kommunalpartei, die knapp unter 30 Prozent lag, mittlerweile zu einer Partei von knapp über 20 Prozent geschrumpft. Die Gegenbeispiele sind fast ausnahmslos Persönlichkeitswahlen, bei denen die Ergebnisse womöglich nicht wegen, sondern trotz der allgemeinen Stimmung gegenüber der Bundes-SPD erzielt worden sind. 

    Hunderte, tausende Kandidatinnen und Kandidaten, die kein Ratsmandat erreicht oder aktuell verloren haben, schütteln bei der Debatte um Verstaatlichung und Enteignung verständnislos den Kopf. 

    Beobachtungen und Warnungen aus der Kommunalpolitik waren zahlreich. Sage keiner in den Führungsgremien, Hinweise habe es nicht gegeben. In Deutschland gibt es, dank zahlreicher Studien und Rankings, kein Erkenntnisproblem. Aber es gibt ein massives Umsetzungs- und Problemlösungsdefizit. Seien es die Fragen von Armutszuwanderung, Flüchtlingszuweisungen, das Sich-Überfordert-Fühlen, das Abgehängtsein oder Abgehängtfühlen ganzer Regionen (solche mit bisher hohen SPD-Wahlergebnissen), nichts von dem kam überraschend. Und für alle, mindestens aber für viele dieser Fragen waren und sind sozialdemokratische Ministerinnen und Minister (mit-)zuständig. Qualität in Regierungen erreicht man nicht durch sozialdemokratischen Regionalproporz.

    Wenn die SPD die Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker im Stadtrat und Kreistag verliert, wird die Axt an die letzte Säule der SPD gelegt. Die Sicherung der Daseinsvorsorge ist ein klassisches Aufgabenfeld sozialdemokratischer Politik, weil sie nicht nur die Sicherheit vor Ort, sondern auch Teilnahme und Teilhabe an der Gesellschaft, also der Freiheit, sichert. Das ist der Gegenentwurf zu „Privat vor Staat“. Warum ist die SPD in dieser Frage nicht besser, fortschrittlicher, nachhaltiger? 

    Die Überwindung der Spaltung unserer Gesellschaft ist eine unserer besonders wichtigen Aufgaben. Kommunen sind systemrelevant, die Menschen stellen dort die Weichen ihres künftigen Lebens und ob sie dies zum Nutzen unserer Gesellschaft tun oder nicht, diese Frage wird zuerst in den Kommunen beantwortet. Wenn die SPD diese Fragen nicht beantworten kann und wenn die Antworten nicht als sozialdemokratische erkennbar sind, wird die Erosion weitergehen. Aber das sollte sie nicht!